Szenario 2095 Forum 2022 – 1

Szenario 2095 Forum 2022 – 1

 

Ludewig, Regina u. Schott, Peter 2022:

Die Ethik – das gute Gewissen

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Die Ethik – das gute Gewissen

Den Begriff Ethik kennen alle, aber kaum jemand hat eine Vorstellung, was darunter verstanden wird. Ethik taucht in den medien immer dann auf, wenn ein Thema im weitesten Sinn mit Moralvorstellungen verknüpft wird.

Oft soll damit begründet werden, dass eine bestimmte Entwicklung gut für uns alle wäre. Eine Ethik für ökologisches Handeln, eine digitale Ethik, um das digitale Leben zu bewältigen, und es werden nach ethischen Grundsätzen entwickelte Regeln für den Einsatz autonomer Systeme festgelegt.

Ethik beinhaltet, nach welchen Werten, Normen, Leitbildern und Vorstellungen wir in der Gesellschaft leben, aber auch, welche Moral der mainstream vorgibt. Alles Handeln wird ethisch hergeleitet, auch wenn sich ethisch begründete Entscheidungen widersprechen. Daraus folgt, dass ethische Konflikte vorprogrammiert sind.

Der fehlende ethische Diskurs

Schon allein das leitbild Fortschritt wird kontrovers gesehen. Ist die unumkehrbahre Digitalisierung unseres Alltags Fortschritt? Für viele Menschen sicher nicht. Und wie verhält es sich mit den unterschiedlichen ethischen Grundsätzen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen? Wie unterscheiden sich die Leitlinien multinationaler Unternehmen von den Leitbildern, die wir haben, um in unserem Alltag zurechtzukommen? Wirtschaftsethik kontra „Alltagsethik“?

Doch die ethischen Konflikte werden nicht gelöst. Die ethische Konstellation mit dem stärksten wirtschaftlichen Hintergrund setzt sich durch. Die heutige Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass kein Diskurs mehr geführt wird.

Meinungen stehen sich in der Medienöffentlichkeit unversöhnlich gegenüber, die eigenen Moralvorstellungen sind das Nonplusultra. Die ethischen Konflikte schwelen unter der gesellschaftlichen Oberfläche.

So findet auch zur künstlichen Intelligenz (KI) keine Debatte statt. Die technische Entwicklung mit einer Gemengelage von KI, Nano- und Gentechnologie geht den heute vorgezeichneten Weg ohne öffentliche Diskussion weiter bis zur technischen Optimierung des Menschen.

Die Medizin im Fokus

Die Frage stellt sich unausweichlich, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Unausweichlich auch deshalb, weil in einem Bereich der technische Fortschritt tief in unseren persönlichen Bereich eingreift. Betroffen ist die Medizin, wo schon vor jahren eine technische Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die unsere Gesundheitsvorsorge und die Behandlung von Krankheiten geradezu revolutioniert.

Angefangen bei der Reproduktionsmedizin mit ihren Bereichen Fortpflanzung und Zeugungsfähigkeit bis zu den neuen gentechnischen Verfahren wie die CRISPR/CAS-Methode, mit der bei Pflanzen, Tieren und auch beim Menschen die DNA, die Trägerin der Erbinformationen, punktgenau geschnitten wird.

Gene können entfernt, eingefügt und ausgeschaltet werden. Mit dieser Methode, auch als Genome Editing bezeichnet, befinden wir uns auf dem Weg zur Gentherapie, die einen direkten und gezielten Eingriff in unsere Erbanlagen bedeutet.

Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) werden durch künstliche Befruchtung erzeugte Embryonen auf genetische Defekte oder Chromosomenanomalien untersucht, bevor sie in die Gebärmutter eingepflanzt werden.

In Deutschland wird die PID bisher nur zur Erkennung von familiär bedingten schweren Erbkrankheiten angewandt. Andere Länder wie die USA, Großbritannien, Israel, Indien und China wird die PID wenig reglementiert. Dort besteht auch die Möglichkeit, die Embryonen nach dem Geschlecht auszuwählen.

Mit der breiten Anwendung der CRISPR/CAS-Methode und der PID werden bisher bestehende ethische Grenzen aufgehoben. Der Wunsch nach Kindern, bei denen die Gene für bestimmte Krankheiten „ausgeschaltet“ und Embryonen mit Dispositionen für Krankheiten verworfen werden, wird in Zukunft moralisch bedenkenlos sein, ebenso der Wunsch nach einer Ausgewogenheit der Geschlechter innerhalb der Familie.

Neue Leitbilder

Auch das Beispiel der Leihmutterschaft, die in Deutschland noch nicht erlaubt ist, zeigt, wie die Medizin sich in Richtung der technischen Optimierung des Menschen entwickelt. Eine Frau stellt sich als Leihmutter zur Verfügung, um das Kind einer anderen Frau auszutragen.

Zum weltweiten Zentrum für Leihmutterschaften hat sich die Ukraine entwickelt, wo in jedem Jahr bis zu 3 000 Kinder von Leihmüttern geboren werden. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Kinder für Eltern aus dem Ausland bestimmt. Bei BioTexCom, dem größten ukrainischen Anbieter, muss für eine Leihmutterschaft bis zu 60 000 Euro bezahlt werden.

Ein Verfahren ist, Ei- und Samenzellen per Post in die Ukraine zu schicken. Im Labor findet dann eine künstliche Befruchtung statt, anschließend wird der Embryo mithilfe der PID ausgewählt und in die Leihmutter eingesetzt.

In der Ukraine bestehen weder ethische Bedenken noch stören Moralvorstellungen das Geschäft der Leihmutterschaft. Die Fortpflanzungsmedizin wird ein Stück weiter privatisiert, die Fortpflanzung ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen.

Ein weiteres Beispiel ist das Social Freezing, bei dem junge Frauen aus medizinischen oder sozialen Gründen Eizellen entnehmen lassen und diese in flüssigem Stickstoff mit Frostschutzmittel schockgefrostet werden. Dadurch wir die natürliche Alterung der Eizellen aufgehalten. Ein genetisch eigenes Kind ist dann zu einem späteren zeitpunkt möglich.

Ursprünglich wurde das Verfahren entwickelt, damit Krebspatientinnen nach einer Chemotherapie noch Kinder bekommen können. Heute wird Social Freezing zunehmend aus sozialen Gründen von Frauen nachgefragt, die ihren Kinderwunsch auf einen späteren Zeitpunkt im Leben verschieben möchten.

Das stets moderne Denken

Was technisch möglich ist, nutzen wir. Entsprechend verschieben wir die ethischen Grenzen, damit die genetische Untersuchung und Auswahl der technisch erzeugten Embryos und die Leihmutterschaft in unsere Moralvorstellungen passen. Insofern ist die Ethik ein wesentlicher Teil unseres guten Gewissens.

So wird es auch sein, wenn Menschen gentechnisch verändert, nanotechnisch optimiert und erfolgreich geklont werden können.

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Regina Ludewig

 

Zertifizierte Beraterin für Ethik im Gesundheitswesen

Mitglied in der Akademie für Ethik in der Medizin

Diplom-Sozialwirtin

 

regina.ludewig@arcor.de

www.ethik-trifft-leben.de

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